Wann und wo die kapitalistische Produktionsweise entstanden ist und sich durchgesetzt hat, ist umstritten, auch unter Marxisten. Nun ergreift der griechische Ökonom Jannis Milios das Wort: Er lokalisiert die Geburtsstunde des Kapitalismus in Venedig, und zwar schon Ende des 14. Jahrhunderts.
Noch einmal lässt Milios die Diskussion um die Entstehung des Kapitalismus Revue passieren. In Auseinandersetzung mit Marx, Lenin, Max Weber, Braudel und Ansätzen der Weltsystemtheorie sowie des sogenannten Political Marxism (Robert Brenner, Ellen Meiksins Wood) lehnt er überkommene Erklärungen ab. Das betrifft die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ebenso wie jede Form von Geschichtsnotwendigkeit.
Mit Rückgriff auf den Begriff aleatorische Begegnung (Althusser/Balibar) rekonstruiert Jannis Milios die Geschichte des zufälligen Zusammentreffens von Geldbesitzern und doppelt freien Arbeitern in der Lagunenstadt und analysiert die Bedingungen, unter denen diese Begegnung sich historisch wirkmächtig entfalten konnte. Eine beeindruckende Studie über eine frühe Finanzialisierung und Proletarisierung der Gesellschaft.Jannis (John) Milios ist Professor für Politische Ökonomie an der Nationalen Technischen Universität Athen (Polytechnio). Er gilt als einer der führenden marxistischen Ökonomen Griechenlands und ist seit Oktober 1982 Herausgeber der Vierteljahreszeitschrift Thesen, die sich mit Fragen der Wirtschafts- und Staatstheorie befasst. Zuletzt erschienen von ihm »Karl Marx and the Classics. An Essay on Value, Crises and the Capitalist Mode of Production« (2018, zusammen mit Dimitri Dimoulis und George Economakis) sowie als Herausgeber »150 years Karl Marx’s ›Capital‹. Reflections for the 21st century« (2018).
*** »Jannis Milios fragt genauer als bislang üblich, was den Kapitalismus als ein soziales System von vorkapitalistischen Gesellschaften unterscheidet. Im Mittelpunkt seines jeden Determinismus vermeidenden Ansatzes steht der – historisch überraschende – Aufstieg Venedigs zu einer führenden Handelsmacht im 13. und 14. Jahrhundert, die eine eigene Form der ›ursprünglichen Akkumulation‹ hervorbringt. Der schon lange geführten Diskussion über die Ursprünge des Kapitalismus gibt er damit eine neue Wendung.«(Michael Heinrich, Autor von »Karl Marx und die Geburt der modernen Gesellschaft. Biographie und Werkentwicklung«) ***
»In dieser großartigen Studie spürt Milios mithilfe von Marx, Braudel, Weber und Lenin den Ursprüngen des Kapitalismus nach, ergänzt durch seine eigene Analyse der ›gelderzeugenden‹ Produktionsweisen – all dies unter Nutzung des althusserschen Konzepts der ›aleatorischen Begegnung‹ gesellschaftlicher Kräfte. Sie ist beeindruckend, überzeugend und überraschend zeitgemäß.«
(Étienne Balibar, marxistischer Philosoph, Co-Autor u. a. von »Das Kapital lesen« und »Rasse, Klasse, Nation«)